Der geschichtliche Hintergrund
Die Mehrzahl der Schriftrollen vom Toten Meer wurden zwischen dem 2. Jahrhundert v.d.Z und dem 2. Jahrhundert n.d.Z. verfasst. In dieser Zeit kämpften unterschiedliche jüdische Gruppen um die politische und religiöse Vorherrschaft in Palästina. Als Primärquellen beleuchten die Handschriften vom Toten Meer diese historischen Ereignisse und ermöglichen eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Juden und von Juden zu ihrer Umwelt zur Zeit des Zweiten Tempels.
Die Texte zeichnen ein Bild der Vielfalt und Komplexität des jüdischreligiösen Lebens und der Philosophie zur Zeit des Zweiten Tempels. Sie haben unser Verständnis von der Welt, aus welcher das rabbinische Judentum und das frühe Christentum hervorgingen, revolutioniert. Obwohl unter den antiken Handschriften keine rabbinischen und christlichen Texte entdeckt wurden,
tauchen viele der dort vorkommenden Gedanken und Praktiken in den späteren jüdischen und christlichen Schriften wieder auf.Vor der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer wurde Judäa in der Zeit des Zweiten Tempels als eine einheitliche Gesellschaft betrachtet. Durch vorgefasste Meinungen beeinflusst, gingen die Wissenschaftler fälschlicherweise davon aus, dass diese Annahme durch die relevanten Primärquellen, wie z.B. Josephus Flavius und andere griechische und römische Autoren, die Evangelien des Neuen Testaments und rabbinische Texte, gestützt werde. Tatsächlich jedoch bieten diese Quellen ein Bild der Vielfalt, das nun durch die Texte vom Toten Meer erkannt und belegt werden kann. Konkret weisen diese Werke auf eine Vielzahl unterschiedlicher jüdischer Sekten hin, wie die der Pharisäer, Sadduzäer und Essener.
Die Schriftrollen klären unser Verständnis der grundsätzlichen Unterschiede zwischen diesen Sekten und zeigen wie entgegengesetzt ihre Weltbilder und Praktiken eigentlich waren. Zwar scheinen alle antiken jüdischen Gruppierungen sich über die zentrale Stellung und Bedeutung der Bibel einig gewesen zu sein, obwohl ihre Vorstellungen von heiliger Literatur unterschiedlich waren. Die nicht-biblischen Texte zeigen hingegen tiefe Unstimmigkeiten bei den unterschiedlichen Gruppierungen mit Blick auf die Art und Weise, wie sie die Schrift auslegten und ihre Gesetze befolgten. Diese Texte fördern unsere Kenntnis der antiken Bibelauslegung und der Auswirkung historischer Ereignisse auf das religiöse Leben und die religiösen Anschauungen in jener Zeit und geben Aufschluss über philosophische Diskussionen zu Tempel, Priesterschaft, dem religiösen Kalender oder dem Leben nach dem Tod.. Praxisrelevantere Diskussionen befassten sich mit dem Alltagsleben und religiöser Observanz.
Diese tiefgründigen gesellschaftlichen Debatten fanden auf dem Höhepunkt der Expansionsbestrebungendes griechischen bzw. des römischen Reiches, in der Zeitspanne zwischen Alexander dem Großen und dem Bar-Kochba-Aufstand gegen Rom, und also vor dem Hintergrund von Invasion und Fremdherrschaft statt. Viele der Schriftrollen wurden während der Jahrhunderte der staatlichen Unabhängigkeit Judäas unter der Herrschaft von jüdischen Hohepriestern und Königen aus der Dynastie der Hasmonäer verfasst. Die innen- und außenpolitischen Unruhen unterstützten die Vorstellung von einem drohenden Weltuntergang. Das ist der geschichtliche Hintergrund, der sowohl die Entstehung der Schriftrollen formte als auch das Aufkommen des Christentums und des rabbinischen Judentums beeinflusste.